Guten Appetit

Claudia sprang vor Freude in die Luft.
Sie schwenkte den brutal aufgerissenen Brief so kräftig hin und her, dass es nur so knallte. Sie ignorierte, dass sie blutete, weil sie sich am Papier geschnitten hatte.
Normalerweise öffnete sie Briefe so sanft, als ob sie die Briefumschläge nochmals verwenden wollte.
Aber diesmal nicht. Sie hatte den Absender bereits an der Handschrift erkannt und konnte nicht warten. Die Ungeduld und die Erregung trieben ihr die Tränen in die Augen. Nur verschwommen konnte sie die Buchstaben erkennen.
Das Einzige, das ihr trotzdem plötzlich klar und deutlich lesbar erschien, war:
"Ich komme am Dienstag, dem 10. zu Dir. Ich denke, dass ich mit dem Auto gegen 17.00 Uhr bei Deinem kleinen Häuschen sein kann."
Mehr konnte und wollte sie nicht lesen.

Sie schaffte es, in zwei großen Sprüngen die Treppe zum Vorgarten zu bewältigen, wo Klaas gerade dabei war, die Rosen von Unkraut zu befreien.
Sie fiel ihm so schwungvoll um den Hals, dass er Probleme hatte, nicht in das dornige Blumenbeet zu stürzen.
"Jürgen kommt, Jürgen kommt morgen, ..." wiederholte sie immer und immer wieder, so dass es fast wie ein ritueller Gesang klang.

Klaas war verwirrt. Zuerst kapierte er nicht, was sie sagte. Aber dann kristallisierte sich auch für ihn der Name Jürgen heraus.
Er runzelte die Stirn und versuchte verzweifelt, sich den Mann vorzustellen, der hinter diesem Namen steckte.
Nicht dass er viel Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Er war zwar - ebenso wie Claudia - bereits seit einigen Jahren volljährig, geistig jedoch war und blieb er auf dem Niveau eines Fünfjährigen, eines Fünfjährigen, der etwas lesen konnte.
Claudia liebte ihn trotzdem oder gerade deswegen. Liebte ihn wie einen kleinen Bruder, den man einfach gernhaben mußte und dem man alles verzieh.
Sie liebte ihn als Freund, als Kumpel, als Menschen, dem sie alle Geheimnisse anvertrauen konnte. Egal ob er sie verarbeiten konnte oder nicht, er behielt sie auf jeden Fall für sich oder er versuchte manchmal sogar, ihr aus einem ganz nebenbei hingeworfenen Gedanken einen Liebesdienst zu erweisen.
Damals, als "seine große Schwester" erzählt hatte, wie sehr sie sich über eine einzelne rote Rose gefreut habe, die man ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, reagierte er.
Es dauerte immerhin 14 Tage, aber dann hatte er einen richtigen Plan und kaum drei Wochen später war er auch in die Tat umgesetzt.
Als Claudia von der Arbeit nach Hause kam, wurde sie vom frisch angelegten Rosenbeet begrüßt. Demselben, in dem sie jetzt mit ihm herumtanzte.

Allmählich beruhigte sie sich und zog Klaas neben sich auf die unterste Stufe. Sie legte ihren Arm um ihn und begann mit erzwungen leiser Stimme von Jürgen zu erzählen.
Manchmal konnte sie nicht weiterreden, wenn sie die Rührung übermannte.
Klaas verstand nicht einmal ein Zehntel von dem, was sie sagte.
"Weißt Du, Klaas, ich möchte mit Jürgen ..."
"Ich habe es so gerne, wenn er mir mit seinen Händen über das Haar ..."
"Ich hab' ihn wirklich, wirklich zum Fressen gern, wenn er ..."
"Einmal da hat er doch tatsächlich während der Autofahrt ..."
"Und sein Hemd wurde ganz naß, aber es hat ..."
"Und dann habe ich ganz zart an seinem Ohrläppchen geknabbert und da ..."
"Es war der schönste Moment in meinem Leben, ..."
"Er hatte doch tatsächlich eine gelbe Rose ..."
"Und seit wir verlobt sind, ist alles ..."
"Ich kann es kaum erwarten, bis wir endlich verheiratet sind und zusammenziehen."

In Klass' Gehirn drehte sich alles. Ein paar Wortfetzen war alles, was hängenblieb.
Er erinnerte sich plötzlich an Jürgen, ein paar Mal hatte er ihn gesehen. Er würde ihn wiedererkennen.
Plötzlich hatte Klaas eine Idee. Für ihn plötzlich, das heißt: am nächsten Morgen.

*

Claudia legte die Geschwindigkeitsbeschränkungen etwas kreativ und großzügig aus, obwohl sie sie normalerweise sehr strikt einhielt, sehr zum Mißvergnügen der ihr folgenden Autofahrer.
Ihr Chef hatte sie nicht nur bis zur letzten Minute im Büro aufgehalten, sondern sie darüber hinaus noch einen Brief ein zweites Mal schreiben lassen, als sie eigentlich schon ihre Jacke anhatte und in Gedanken schon Jürgen um den Hals fiel.
Zum Glück hatte der bekannte Rechtsanwalt nicht gesehen, dass sie aus Flüchtigkeit einen verhängnisvollen Tippfehler eingebaut hatte, der den Einspruch nicht rechtswirksam werden ließ.

Immer, wenn man es eilig hat, erscheint alles in Zeitlupe zu passieren.
Die alte Dame, die jeden Abend um die selbe Zeit zum Supermarkt ging, um sich einen schönen, frischen, roten Apfel für den Nachtisch und ein ebenso frisches Brötchen für das Frühstück am nächsten Morgen zu holen, ging heute besonders langsam über den Zebrastreifen.
Claudia war versucht, das Gaspedal etwas herunterzudrücken, um durch das aufheulende Geräusch die alte Dame etwas anzufeuern.
Sie beherrschte sich jedoch. Wenn die alte Dame erschrak und hinfiel, dauerte es sicherlich noch sehr viel länger.
Und sie konnte es so schon kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
Jürgen würde schon auf sie warten.
Sicher hatte er sich wieder so eine richtig verrückte Überraschung für sie ausgedacht.
Dabei entwickelte er unwahrscheinlich viel Phantasie.

Sie vermochte kaum daran zu denken, die Handbremse anzuziehen, als sie vor ihrem hübschen kleinen Vorstadthäuschen parkte. Direkt hinter Jürgen's Wagen.
Im Vorbeigehen ließ sie ihre Hand über die Motorhaube gleiten.
Sie war kalt. Also mußte Jürgen schon eine ganze Zeit da sein.
Sie verfluchte ihren Chef, die drei roten Ampeln und die alte Dame.
Nein, die alte Dame nicht. Sie konnte ja nichts dafür und Claudia würde auch einmal so alt sein und sich freuen, wenn man sie in Ruhe die Straße überqueren ließ.

Auf der untersten Stufe stand Klaas und strahlte sie an.
Sein Gesicht leuchtete, wie es das nur tat, wenn er sich ausmalte, wie Claudia sich über eine Überraschung freuen würde.
Das letzte Mal hatte er so gestrahlt, als er klammheimlich das Rosenbeet angelegt hatte, während sie bei der Arbeit war.
Sie hatte sich so gefreut, dass sie ihn umarmte und ihm sogar einen Kuß auf die Wange gab.

Klaas nahm Claudia vorsichtig am Arm und führte sie in das Häuschen.
"Hmmm, das riecht ja toll. Hast Du etwa für uns gekocht, Klaas?".
Klaas nickte nur, deutete auf das kunstvoll gemalte Schild mit dem fehlerfrei geschriebenen Text "Guten Appetit" und öffnete die Wohnzimmertür.

Er trat einen Schritt beiseite, damit sie den Wohnzimmertisch sehen konnte.

Am Kopfende des Tisches lag das große Tranchiermesser und eine Grillgabel.
Die Kohlen auf dem tragbaren Grill brannten vor sich hin. Das Fett der letzten Grillparty sorgte dafür, dass es angenehm und unaufdringlich nach den bereits vergangenen Köstlichkeiten roch. Frische Zwiebeln ergänzten das reiche Aroma.

Auf den beiden großen, silbernen Tabletts, auf denen sonst die Vorspeisen, die Appetithäppchen und manchmal auch das Hauptgericht gereicht wurden, lag Jürgen auf seinen Knien. Unbekleidet. Das Hinterteil etwas nach oben gestreckt, damit er komplett auf die Tabletts paßte.
Der Kopf lag auf dem Tablett auf, das volle, braune Haar war sorgfältig über die Kopfwunde gekämmt, damit sie nicht so ins Auge fiel. Im Mund steckte appetitlich ein schöner, roter, frischer Apfel, wie ihn die alte Dame wohl kaum verschmäht hätte.

Klaas' Augen erleuchteten sich noch heller, als er ihr erklärte: "Du sagtest doch, dass Du ihn zum Fressen gern hättest!"

E N D E

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