Modesty Plays *
Das letzte Abenteuer der Lady

(Eine Parodie auf die Modesty-Blaise-Romane
von Peter O'Donnell,
erscheint demnächst beim HoHoHo-Verlag in Ramburg)

(* die näherliegende Verballhornung "Modesty - die Lady bläst" habe ich mir verkniffen!)

- 1 -

Willie Garfield führte Modesty langsam und vorsichtig an der Hand in den hinteren Gästeraum seines Gasthauses The Tretmühle. Ihre Augen waren mit einem kostbaren Haschmisch-Schal verbunden.

"Prinzessin, es wird eine superkalifragilistischexpialigorische Überraschung!"
Woher er wohl dieses Wort wieder hatte? Auch heute noch bildete er sich jeden Tag mit einem neuen Wort weiter. Was machte es schon, dass er manches Wort das dritte oder vierte Mal neu lernte. Sie nahm sich trotzdem vor, bei der nächsten Gelegenheit das Fremdwort im Lexikon nachzuschlagen, falls sie es bis dann nicht bereits wieder vergessen hatte.

Als sie vorsichtig ihren immer noch grazilen in einen zartblauen Gesundheitsschuh gebetteten Fuß über die eicherne Schwelle hinwegsetzte, schallte ihr das vielstimmige "Happy Birthday"-Lied eines gemischten Chores entgegen. Die Mischung bestand aus Leuten, die singen konnten und solchen, die nicht wußten, dass sie es nicht konnten.
Ebenso gemischt waren ihre Gefühle. Sie freute sich darüber, dass man ihren Geburtstag nicht vergessen hatte. Aber eigentlich wollte sie ihren 60. Geburtstag einfach vergessen und verdrängen.

Willie nahm ihr den Schal ab. Sie blinzelte und war zuerst nicht in der Lage, überhaupt etwas in diesem Raum zu erkennen. Sie wurde von einem Lichtermeer, der Vielzahl der brennenden Kerzen geblendet, die den riesigen Geburtstagskuchen zierten bzw. fast erdrückten.

Modesty winkte Willie neckisch mit dem kleinen Finger zu.
"Also soooo alt bin ich nun wirklich nicht!"
- "Schau dir doch mal die Kerzen etwas genauer an!"

Sie hielt sich die rechte Hand vor die Augen und betrachtete die kleinen Etiketten, die Willie in tagelanger Kleinstarbeit beschriftet und auf die Kerzen geklebt hatte. Vielleicht hätte er sie zuerst bedrucken und dann aufkleben sollen, das wäre einfacher gewesen.

"Sixton - Genickbruch im unterirdischen See, Genickologe konnte nicht mehr helfen",
"Colonel Jim - eine Eisenstange war zu entgegenkommend und durchbohrte ihn",
"Wentschel - er hätte mit etwas anderem wedeln sollen",
"Sepp - vom Teufel erwischt",
"Delicatessa - der mit gebrochenen Händen und Genick",
"Jack Fish", "Prestän", "Beauregarde Braun", "Gabrielle", "St. Mauer", "McWhörter", "Thaddäus Pillhuhn", "McCreedy", "Huch Oberon"
und auf zwei Kerzen, die sehr eng zusammenstanden:
"die polnischen Zwillinge - der Beton war ihr Schicksal".

Sie strahlte Willie an: "Wie süß von Dir! Für jeden, den wir getötet haben oder der bei einem unserer Einsätze ums Leben kam, hast Du eine Kerze aufgestellt. Willielieb, du wirst in deinem Alter wohl wirklich etwas sentimental!" - "Und ich muß ein genauso weiches Gehirn haben. In den letzten Monaten bin ich zu den Stellen geflogen und gefahren und gelaufen, wo unsere Abenteuer stattgefunden haben. Ich mußte die Namen und Sterbedaten von den Grabsteinen ablesen. Und die Kerzen habe ich aus selbst gesammeltem Bienenwachs gezogen."

"Und was ist mit uns? Willst du uns nicht die Möglichkeit geben, dir endlich zum Geburtstag zu gratulieren?"

Jetzt endlich drehte sich "die Plays" um, wie vor allem ihre Gegner sie respektvoll nannten. Ihre Augen leuchteten fast wie im Wettbewerb mit den Kerzen auf, als sie die Schar ihrer Gratulanten sah.

Lady Jannet hatte zu diesem Ehrentage extra ihr Teakholz-Bein umgeschnallt. Da es aber vor einigen Jahren einen Unfall gegeben hatte, über den sie nichts erzählte sondern bei der Erwähnung desselben nur rot wurde, war dieses Holzbein etwas kürzer und sie mußte sich auf den Tisch aufstützen. Sie hinkte auf Modesty zu, um ihr ein Stück Papier zu überreichen. "Also, Jannet, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen! Ein Gutschein für einen Kurs Seniorengymnastik!"

Dinah Collie war vor der Hitze der Kerzen erschrocken zurückgewichen und ihrem Ehemann Stephen kräftig auf den Fuß getreten. Später erzählte er, dass er diesen einbeinigen Indianertanz extra zu Modesty's Ehren einstudiert hätte.

Konifer war aus seinem Sanitorium, das er aber als sein Büro betrachtet, extra (mit etwas Hilfe von Scopolamin) in die Niederungen des irdischen Daseins gekommen, um seine treuste Dienerin Modesty zu besuchen und mit sich zu nehmen. Na gut, ein paar mal zu nehmen, wäre auch nicht schlecht.

Der in Ehren ergraute Blazer, Gerald Tyran's ergebenster Untergebener, war wieder in seinen alten Anzug geschlüpft und damit in seine devote, unscheinbare Haltung verfallen, in der man ihn in der Menge fast nicht wahrnahm, falls er nicht - wie eben - das Wort ergriff. In der Hand die unvermeidliche Tasse Kaffe, zur Hälfte mit Brandy verdünnt.

Neben ihm stand mit einem Riesenblumenstrauß mit dreißig fleischfressenden Pflanzen der amerikanische Multimillionär Karl Dall, Modesty's langjähriger Freund, der schon viele Male seinen Reichtum zu Modesty's Hilfe eingesetzt hatte. Mit seinem gesunden Auge zwinkerte er ihr zu, als er ihr ein kleines Päckchen überreichte. Ein warmes Leuchten überzog ihr immer noch attraktives Gesicht. "Du suchst doch immer das Richtige aus! Woher wußtest du, dass ich mir immer schon einen goldenen Hornhauthobel gewünscht habe?".
Erinnerungen durchfluteten sie an die großartige Zeit, als sie - mal vorwärts und mal rückwärts - die ersten 30 Jahre ihres Lebens barfuß durch sämtliche Wüsten der Welt getrabt war, bis sie schließlich im zarten Alter von 19 Jahren in der Zivilisation ankam und ihre nicht ganz so legale Gruppe "Das Haarnetz" gegründet hatte..

Léon Wobwa, der ehemalige Chef des Dösjem Büro, überreichte mit einem hinterlistigen Grinsen eine Riesenpackung Klostermann Kamillengeist, Giles Pennyfresser einen Gutschein über kostenlose, lebenslängliche Lachfältchenentfernung, Alex Hämmer ein Riesenbrustbild von Modesty (für Modestys Landhaus in Wildschier), das er vor ca. 30 Jahren gemalt hatte. Sein Kommentar: "Wir hängen auch alle so an dir!".

Quinn, Garcia, Danny und Kim Croissant, Lisa Brunel, Molly Chen, Danny Schauwas, Luke Fleischer und Maude Giller grinsten ebenso wie Ozymandras, der sich zur Feier des Tages eine Ganzkörperrasur geleistet hatte und nur einen - etwas größer geratenen - Lendenschurz aus Bananenschalen trug.

Suchend drehte sich Modesty um: "Wo ist Wang?"

Willie sah ihr tief in die Augen und sagte: "Du mußt jetzt stark sein, Prinzessin. Wang wollte dir zeigen, wieviel Geld er in all den Jahren von dir bekommen oder sonstwie an uns verdient hat. Gestern mittag hat er sein ganzes Geld abgehoben und wollte es in unserer Villa in Tanger nachzählen. Dabei sind die Gold- und Silbermünzen auf seinem Schreibtisch verrutscht und ein oben liegender Goldbarren hat ihn so schwer am Kopf getroffen, dass er sofort starb!" - "Er war doch noch so jung, erst 70 Jahre. Und er wollte im nächsten Jahr anfangen, sein Leben zu genießen!"

Sie mußte unterbrechen, weil ihre Stimme versagte. Nach einem Moment schluchzte sie: "Und wo ist Sir Gerald Tyran? Bitte sage mir nicht, dass auch er ..." - "Nein, er ist noch am Leben." - "Und warum ist er jetzt nicht hier?"

"Wenn ich da einhaken dürfte." schaltete sich Blazer ein. "Ich habe versucht, ihn in seinem Altersheim anzurufen. Ich habe es nicht geschafft. Und vorhin wollte ich ihn abholen, da hat man mir nur durch die verschlossene Tür zugerufen, dass es ihm nicht so gutgehe und ich schleunigst zum Teufel gehen solle. Und da bin ich sofort hierher gefahren!".

Modesty's Körper straffte sich zusehends. "Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich habe da ein ungutes Gefühl. Willie, sonst kribbeln deine Ohren immer, wenn eine Gefahr droht. Bei mir kribbelt es jetzt auch, aber woanders. Na gut, es kann auch sein, dass ich wieder mal Deo und Haarfestiger verwechselt habe. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, dass wir ihm zuhilfe kommen müssen."

Nachdem alle Gäste den Raum verlassen hatte, nahm Willie den großen Eimer, der in der Ecke stand, um seinen Inhalt über die immer noch hell brennenden Kerzen zu schütten und sie damit zu löschen. Als er merkte, dass sich Sangria im Eimer befand, war es schon zu spät. Die Stichflamme ließ ihn zurückspringen, was ihn vor der eigentlichen Explosion rettete.

Modesty nahm ihn draußen vor der Tür in den Arm und trocknete ihn dann mit einem halbwegs sauberen Taschentuch die Tränen ab. "Ich habe zufällig gesehen, dass Wang dir all sein Geld vererbt hat. Davon kannst du dir zwei solche Gasthäuser kaufen oder bauen!"

Willie schluchzte noch einmal tief auf. "Jetzt wird es aber Zeit! Wer weiß, wie es Sir Tyran in der Zwischenzeit ergangen ist. Er hat uns so oft in lebensgefährliche Abenteuer geschickt. Deshalb sind wir ihm ewig zu Dank verpflichtet und müssen ihm helfen!"

- 2 -

Seit über 25 Jahren wollte Sir Gerald Tyran in Pension gehen. Aber jedesmal passierte dann seinem Nachfolger im Amte des Geheimdienstchefs irgendetwas und er wurde vom jeweiligen Minister gebeten, doch noch so lange im Amt zu bleiben, bis sein Nachfolger gefunden und eingearbeitet wäre. Voriges Jahr hatte er es im Alter von 89 Jahren dann doch endlich geschafft (weil seinem Nachfolger und dem Minister gleichzeitig etwas sehr Menschliches zustieß) und war in den lange ersehnten Ruhestand und in dieses Seniorenheim für ehemalige Britische Geheimdienstangehörige gegangen, was er schon längst und unzählige Male bitter bereut hatte.

Als er ins Heim eingezogen war, hatte er einfach nicht geschaltet, als er hörte, dass die Leiterin Olga Katharina Iwanowa Fedorowna hieß. Erst Monate später fiel ihm ein, wo er diesen Namen schon mal gelesen hatte. Ein Geheimdossier über eine der obersten KGB-Persönlichkeiten, die sich angeblich zur Ruhe gesetzt hatte. Als es ihm einfiel, war es bereits zu spät. Er war durch das Essen schon so geschwächt, dass er von seinem Zimmer im ersten Stock nicht mehr ohne Hilfe zum Münztelefon im Parterre kommen konnte.

Die vier kräftigen Männer, die als Pfleger bezeichnet wurden und erstaunlich wenig Englisch verstanden oder so taten als ob, machten ihm mit hartem Akzent klar, dass es für ihn nicht so gesund wäre zu telefonieren.

Als er seine wässerige Borscht-Suppe zu sich nahm, was mit der zweizinkigen Gabel garnicht so einfach war, fing er an, einen Verdacht zu schöpfen. Sollte er hier etwa in eine Falle gegangen sein? Dass er der einzige Insasse des Heimes war, war auch nicht gerade unverdächtig.

Kurze Zeit nach seinem Einzug hier, also ca. 3 Monate später, hatte ihn Olga aufgesucht und ihm so merkwürdige Fragen gestellt:
- "Wie ist das Passwort für den Zentralcomputer des Verteidungsministeriums?"
- "Welche Schuhgröße hat der Premierminister?"
- "Wie ist die geheime Telefonnummer des Britischen Geheimdienstes MI6 in Moskau?"
- "Wie hat der schwule Staatssekretär im Außenministerium seine Eier am liebsten?"
- "Wie ist der Code, um die Britischen Raketen Richtung Washington abzufeuern?"

Als er vorgab, auf diese Fragen keine Antwort zu haben - oder hatte er sie tatsächlich vergessen? - begann man, ihn systematisch zu foltern. Man entwickelte viel Phantasie, um sich immer neue Foltermethoden auszudenken.

Man salzte die Leber zum Mittagessen als sie noch roh war und erzwang damit, dass sie so hart wurde wie Olga's Gesichtszüge. Und man gab Tyran sowieso nur ein stumpfes Messer.

Man füllte seine Wärmflasche abends mit Eiswasser.

Über einen Lautsprecher ertönte ständig das Rauschen eines Wasserfalles und zwang ihn damit zum häufigen Wasserlassen.

Bei seiner einzigen Entspannung, dem 5000-Teile-Puzzle, wurde heimlich ein Teil versteckt.

Seine beiden Yorkshire-Terrier wurden ständig mit scharfem Chili gefüttert, was die Luft in seinem Zimmer nicht unbedingt verbesserte.

Sie versteckten sein Viagra in einer Riesenpackung M&M's, aus dem man alle bis auf die blauen weggefuttert hatte. Na ja, das war nicht so schlimm. Schließlich würde er heutzutage die ganze Nacht für etwas brauchen, was er früher die ganze Nacht gemacht hatte. Als er noch Zugriff auf seine Viagra's hatte, hatte er immer abends eine halbe Tablette geschluckt, damit er nachts nicht aus dem Bett rollte.

Sie tauchten die Räder seines Rollstuhles in Schmierseife und brachten 1-cm-hohe Leisten auf allen Gängen an. Sie waren zu hoch, um darübersteigen zu können und die Räder des Rollstuhles drehten ebenso durch wie er.

Sie verabreichten ihm ein Abführmittel und gaben ihm nur hartes oder einlagiges Toilettenpapier oder aber versteckten es komplett.

Doch die Folter brach ihn nicht. Eins hielt ihn aufrecht. Er wußte, dass Modesty ihn suchen würde, falls er ihr keine Geburtstagskarte schicken würde.

- 3 -

Mit quietschenden Bremsen hielt der Bus vor dem Seniorenheim. Wie gut, dass Willie manchmal seinen Minicooper mit dem städtischen Bus verwechselte, der direkt vor seinem Gasthaus eine Haltestation hatte. So konnten wenigstens alle mitfahren, die Tyran helfen wollten. Auf jeden Fall bequemer als im Minicooper.

Der peinliche Moment war vergessen, als Willie Modesty gebeten hatte, ihm doch die Landkarte zu geben, die sie auf dem Schoß liegen hatte. Wobei ihr nur der Rock etwas hochgerutscht und ihre Krampfadern und Besenreiser sichtbar geworden waren.

Willie versuchte, die Situation etwas zu entschärfen: "Ich kannte da mal ein Mädchen in Marseille. Die wollte meine Rückenschmerzen unbedingt mit der Position 134 aus dem Kamasutra heilen und die Zeichnung in dem Buch sah fast genauso aus wie ...". Ihr harter Blick durch die leicht getönten Kontaktlinsen brachte ihn sofort zum Schweigen.

Modesty stieg aus, gefolgt von Blazer, Konifer - der immer noch einen großen Teller mit Geburtstagstorte in den Händen trug -, Jannet, Maude, Léon, Dinah und Stephen und zum Schluß Willie.

"Willielieb, würdest du jetzt bitte den Blinker ausmachen, den du vor 20 Kilometern gesetzt hast?!"

Blazer rüttelte vergebens an der gußeisernen Haustür. "Mist, zugeschlossen!"

Stephen sah seine Stunde gekommen. Er war kein großer Kämpfer. Da seine Haare zuerst die hintere Seite seines Kopfes verließen und zwar fluchtartig und büschelweise, hielt er sich für einen großen Denker. "Hört mal Leute, das hier ist doch ein Seniorenheim. Und Senioren haben des öfteren Probleme mit dem Gedächtnis. Und was vergessen ältere Leute am liebsten?" - Er machte eine Kunstpause, bis Dinah ihm ihren Ellenbogen in die Seite stieß. "Ihren Hausschlüssel!"

Triumphierend sah er sich um. Verständnislose Gesichter starrten zurück. Fassungslos über das Unverständnis vollendete er seine Theorie: "Und wenn man des öfteren seinen Hausschlüssel vergißt, dann deponiert man einfach einen zweiten in der Nähe des Hauses!"

"Ich liebe dich, weil du so genial bist. Und dafür darfst du am Samstag wieder mal, na du weißt schon. Ich brauche jetzt nur eine metallische Wünschelrute oder so etwas ähnliches."

Sofort öffnete Blazer seine Jacke, zog den Hosenträger aus, hielt die Hose mit einer Hand fest und reichte Dinah den mit Metallfäden durchzogenen Hosenträger. "Geht das?"

Dinah nickte und hielt den Hosenträger mit gestreckten Armen vor sich. Sieben Getränkedosen und zwei Gebisse später schrie Stephen auf: "Hier ist etwas. Mein Gott, das ist ein Schlüssel. Ich hatte Recht, ich bin ein Genie!"

Willie nahm Stephen den Schlüssel aus der Hand und öffnete die Tür.

In diesem Moment ging das Licht in der Halle an. Olga und die vier "Pfleger" kamen aus dem Verwaltungsbüro neben der Treppe zum ersten Stock in einer breiten Reihe auf sie zu. Jeder trug eine Maschinenpistole Marke Uzi unterm Arm und ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

- 4 -

Tyran war fast schon zu schwach, um sich alleine aus seinem Bett zu erheben. Das Essen und die Folter hatten dafür gesorgt, dass er in diesem einen Jahr ziemlich abgemagert war. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Sein Gehör war noch gut. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er wegen der Abmagerung fledermausähnliche Ohren bekommen hatte. Es mußten quietschende Bremsen gewesen sein, die ihn geweckt hatten.

Er kramte in der Schublade seines Nachttischschränkchens nach zwei Keksen, die er vor Wochen gestohlen hatte. Er schlang den ersten schnell herunter. Das würde ihm Kraft geben, um die Leisten auf dem Flur überwinden zu können und innerhalb der nächsten Viertelstunde aus seinem Zimmer die Treppe herunter in die Vorhalle zu gelangen. Dann würde er den zweiten Keks benötigen oder eine Infusion.

- 5 -

Willie verbeugte sich mit der Andeutung der Grazie eines Grafen aus dem 17. Jahrhundert. "Mein Name ist Bond, James Bond!"

Er nutzte die Verblüffung seiner Gegenüber und riß dem hinter ihm stehenden Konifer den Teller mit der Torte aus der Hand. Seine Treffsicherheit mit allen möglichen und unmöglichen Wurfgegenständen war schon sprichwörtlich. Der linke Pfleger wurde von der Torte im Gesicht getroffen. Der größte Teil der Backware landete in seinem vor Schreck weit geöffneten Mund. Er vergaß, dass er Diabetiker war und schluckte im ersten Schreckmoment schreiend die mit viel zu viel Zucker hergestellten Torte herunter. Und damit blieben nur noch vier Gegner übrig.

Lady Jannet nutzte die Verwirrung. Der äußerst recht stehende Pfleger war leicht zu erreichen. Sie humpelte zu ihm, schnallte mit zwei geübten Griffen das Teakholzbein ab und schlug den Mann KO. Dass das Holzbein dabei in mehrere Teile zersplitterte, nahm sie nur mit halbem Auge während ihres Falls auf den harten Fußboden wahr.

Modesty hatte sich umgedreht. Sie suchte die nächste Wand. Wie oft war sie ein Stück die Wand hochgelaufen und hatte dann den Gegner durch einen Überschlag überrascht. Die Wand war aber zu weit entfernt. Zumindest heute, bei ihrer Kondition. Aber sie konnte immer noch sehr schnell rückwärtslaufen. Der vorletzte und demnächst auch verletzte Pfleger traute seinen Augen nicht, als sie so auf ihn zurannte. Sie stoppte kurz vor ihm. Ihr immer noch schlankes rechtes Bein - das linke war natürlich genauso schlank - schwang herum, so hoch in die Lüfte, dass der obere Rand ihres durchsichtigen Netz-Stützstrümpfes sichtbar wurde. Das war der letzte Anblick, den der Pfleger noch wahrnahm.

Willie schrie laut auf. Seine heißgeliebten Messer hatte er in die eigens dafür vorgesehenen Schlaufen gesteckt. Er hatte das erste Messer herausgerissen, hochgeworfen und in der Hektik falschrum aufgefangen. Das Blut spritzte aus seiner rechten Hand und das Messer landete im Geländer der Treppe zum ersten Stock. Direkt neben Sir Gerald Tyran's Kopf, der es endlich geschafft hatte, die Treppe herunterzukommen. Tyran wachte wieder auf.

Modesty zerrte inzwischen an ihrem schwarzen Haardutt. Hoffentlich hatte sie nicht wieder vergessen, einen Kongo hineinzutun. Eigentlich sollte sie ja nur zu einer Geburtstagsfeier gehen und da brauchte man normalerweise keinen Kongo. Sie atmete tief auf, als sie etwas Hartes in ihren Haaren fand. Ach da war die kleine Hantel gelandet, als sie vorgestern einhändiges Stemmen trainiert hatte! Die Hantel war nicht aus dem Kongo und eine Hantel war kein Kongo aber besser als nichts. Und dieses Nicht-Nichts bekam der letzte verbliebene Pfleger zu spüren und schaltete ihn aus.

Willie hatte sich die Hand mit seinem Taschentuch verbunden und beobachtete Modesty, ob sie ihm irgendetwas mit ihren geheimen und in Jahrzehnten gemeinsam entwickelten Handsignalen mitteilen wollte. Er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte und entschied sich endlich dafür, es für nervöse Zuckungen zu halten und zu ignorieren.

Olga sah, dass sie allein war. Sie drehte sich um und wollte die Treppe hochlaufen. Aber sie hatte nicht mit Tyran gerechnet.

Tyran war vor dem Krieg Fechtmeister gewesen. Vor welchem wußte er nicht mehr. Aber er wußte, dass eine der Holzstangen am unteren Ende des Treppengeländers gefährlich lose war. Als Olga auf ihn losstürmte, riß er an einer Stange. Ob er die richtige Stange erwischt hatte oder ob der zweite Keks, den er schnell noch zu sich genommen hatte, ihm übermenschliche Kräfte verlieh, er hatte auf jeden Fall eine Stange in der Hand. Er streckte sie Olga entgegen und schrie "Gardez!" (oder sagte man das beim Halma?). Als Olga ihn fast erreichte, durchzuckte ein Krampf seinen rechten Oberarm und riß ihn nach oben, wo die Stange mit ihrer Stirn zusammenprallte und sie für längere Zeit außer Gefecht setzte.

Stephen kam vorsichtig hinter Dinah's Rücken hervor und betrachtete staunend das Chaos aus Pflegern, russischen Ex-Agentinnen, Blut und Torte.

- 6 -

Als Modesty Gerald vorsichtig die Treppe hochtrug, flüsterte er ihr leise ins Ohr:
"The same procedure as last year?"
- "The same procedure as every year!"
- "I'll do my very best! Hoffentlich kannst wenigstens du blaue M&M's von anderen Dingen unterscheiden!"

 

E N D E

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