"Ein Tag ohne
Probleme. Das soll Dein heutiger Geburtstag für dich
sein!".
Rudolf erwachte, als Sylvia ihm mit diesem Spruch und einem sehr,
sehr feuchten, lauten und schmatzenden Kuß zu seinem 45.
Geburtstag gratulierte. Es ist aber nicht jedermanns Sache, um 7
Uhr morgens auf diese Art geweckt zu werden.
*
Ein Tag ohne Probleme.
Rudolf's aktuellstes und
dringendstes Problem war, sein Gesicht unauffällig von dem zwar
gutgemeinten aber viel zu reichlich gespendeten feuchten Segen zu
befreien. Falls Sylvia das merkte, würde sie ihm sehr, sehr böse
sein. Für ungefähr 30 Sekunden. Länger hielt sie es nie aus.
Und dann würde sie ihm mit einem zweiten, doppelt so feuchten
und doppelt so lauten Kuß verzeihen.
Und ob Rudolf dies überstehen würde, ohne zu ertrinken, war
fraglich.
*
Ein Tag ohne Probleme.
Rudolf's größtes Problem aber
war und blieb Sylvia selbst.
Sie meinte es gut. Zu gut. Zu gut mit allem, was sie tat. Sie übertrieb
alles.
Wenn sie mit ihren einzigen verbliebenen Verwandten in Australien
telefonierte.
Wenn sie einmal im Monat mit ihm schlief. Rudolf's Kollegen
grinsten immer, wenn er sich an jedem ersten Montag des Monats
krankmeldete. Sie wußten Bescheid.
Wenn sie kochte, so kochte sie
zuviel.
Wenn sie Salz ans Essen tat, ...
Wenn sie zusätzlich zerlassene Butter auf den Kartoffelbrei goß,
den sie mit extrafetter Vollmilch zubereitet hatte.
Wenn sie ihr eigenes Essen zu sich nahm.
Wenn sie zunahm, weil sie all die Reste aß - essen mußte -, die
Rudolf nicht essen konnte oder wollte. Ein Mann von 1,80 m und 60
KG hat nur ein ganz bestimmtes und sehr begrenztes Fassungsvermögen.
Und von genau diesem Fassungsvermögen hatte sie sich durch die
jahrelange harte Arbeit des Restevertilgens ein gewaltiges
angelegt.
Als Rudolf und Sylvia sich kennen und lieben gelernt hatten, war
sie 10 cm kleiner und 10 KG leichter gewesen als er. Jetzt - kaum
6 Jahre später - war sie 11 cm kleiner aber dafür 30 KG
schwerer als er.
*
Ein Tag ohne Probleme.
Rudolf's Problem war jetzt, daß
sie ihm unbedingt das Frühstück im Bett servieren wollte. Sie
stellte ihm das übervolle Tablett so auf den Bauch, daß er
nicht wußte, wie er atmen sollte, ohne das Tablett umzukippen.
Sie hatte all die Dinge auf dem Tablett aufgehäuft, die sie
gerne aß. Eigentlich wäre es deshalb viel einfacher gewesen,
Rollen an den Kühlschrank zu montieren und ihn neben das Bett zu
schieben - auf ihre Seite selbstverständlich.
Seit fast 6 Jahren bekochte sie ihn und er war nie in der Lage
gewesen, ihr beizubringen, daß er seinen Kaffee schwarz und ohne
Zucker trank.
"Nichts da! Papperlapapp! Dein Kaffee muß wie meine Liebe
zu dir sein: heiß und süß!".
Rudolf hätte schwören können, daß sie es fertigbrachte, das
Kaffeewasser auf 110 ° zu erhitzen.
Und jedesmal tat sie 4 Stück Zucker in seine Tasse.Und manchmal,
wenn sie ihm irgendetwas Unwichtiges erzählte, verzählte sie
sich und begann von neuem, den Zucker in seine Tasse zu tun. Oder
wenn sie es besonders gut mit ihm meinte - wie heute an seinem
Geburtstag -, dann tat sie ein oder zwei Extrastücke hinein.
"Mir ist garnicht gut, Liebling. Darf ich meinen
Geburtstagskaffee später am Küchentisch trinken?". Rudolf
merkte es selbst, daß es ein Fehler gewesen war, dies zu sagen,
als die Worte gerade eben seinen Mund verlassen hatten.
Sie konnte sich 20 mal am Tag die Hände waschen, aber sie
blieben stets feucht. Und mit ihrer rechten Hand, die im Moment
eher einem Waschlappen glich, fühlte sie seine Stirn.
"Ich denke, du hast Fieber, mein Lieber."
Rudolf hatte ihr nie beibringen können - und selbst ein ärztliches
Attest und ein Artikel aus Readers Digest hatten nicht geholfen -
daß man Fieber auch unter der Zunge oder unter dem Arm messen
konnte.
Bevor Rudolf aufschreien konnte, hatte sie ihn herumgedreht, die
Schlafanzugshose heruntergezogen und das Thermometer eingeführt.
Eingeführt war eigentlich das falsche Wort. Wie bereits erwähnt,
übertrieb Sylvia bei allem - wirklich allem - was sie tat.
Erst als das Thermometer schmerzhaft auf Widerstand stieß, hörte
sie auf, es mit aller Kraft und mit höchster Geschwindigkeit in
Rudolf zu versenken.
"In 5 Minuten lese ich das Thermometer ab. Bis dahin bleibst
du ruhig liegen, mein Schatz.". Sie verabschiedete sich mit
einem erneuten feuchten Kuß.
5 Minuten Ruhe.
Rudolf sann verzweifelt, wie er sie nutzen konnte.
*
Ein Tag ohne Probleme.
Wie durch ein Wunder hatte sie
ihn nur unter die Dusche geschickt, nachdem sie festgestellt
hatte, daß Rudolf's Temperatur normal war. Auf das Messen des
Blutdruckes hatte sie diesmal verzichtet.
"Kannst du nicht nach dem Duschen die Duschkabine
saubermachen?!" keifte sie ihn in dem Moment an, als er die
Duschkabine verlassen hatte, um sich abzutrocknen.
"Ach, laß das. Das mache ich besser gleich selbst!".
In Rudolf begann die Galle ganz leicht hochzusteigen.
Ein Tag ohne Probleme?! Wohl kaum.
*
Ein Tag ohne Probleme.
Sylvia stellte ihm die große,
schwere Geburtstagstorte auf den Tisch. Natürlich Buttercreme
mit Cointreau. Eine Torte, die er nicht mochte, aber sie.
Da sie statt der 45 Kerzen, die sie eigentlich darauf plazieren
sollte und wollte, nur 20 auf ihr unterbringen konnte, entzündete
sie für die 25 fehlenden Kerzen/Jahre eine etwas dickere Kerze
und stellte sie auf den schwarzen, schweren, gußeisernen
Kerzenständer, den sie von ihrer Großmutter mütterlicherseits
geerbt hatte.
Rudolf nahm den Kerzenständer in die Hand, als ob er ihn noch
nie gesehen hätte.
Sylvia wartete ungeduldig auf das Auspusten der Kerzen, damit sie
endlich die Torte essen konnte. Essen? In sich hineinschaufeln!
"Worauf wartest du noch, Rudolf? Auspusten! Auspusten!".
Rudolf war folgsam. Auspusten!
*
Ein Tag ohne Probleme.
"Deinen Geburtstag mußt du
unbedingt in der freien Natur feiern!". Wie immer hatte er
keine andere Wahl als mitzugehen.
Ohne Probleme waren sie beide zu dem kleinen See im Wald spaziert.
Wie immer trug er die Tasche mit dem Brot für die Enten und dem
anderen Essen, das sie brauchte, um die halbe Stunde Fußweg
dorthin und zurück zu überstehen.
Selbst wenn nicht er die Tasche getragen hätte, fiel es
irgendwie nicht weiter auf, daß die Tasche heute etwas schwerer
war als sonst. Genau genommen um das Gewicht eines schwarzen,
schweren, gußeisernen Kerzenständers schwerer.
Wie immer stand sie am etwas abfallenden Nordufer. Es sah so aus,
als ob dort, wo die Enten sich tummelten, eine dicke
Schlammschicht den Boden des Sees bedeckte, der wahrscheinlich
wesentlich tiefer war als er aussah. Eine ehemalige Kiesgrube
hatte das so an sich.
Sie begann, die Enten zu füttern. Wie er das haßte, wenn sie
die großen und frechen Enten zuerst fütterte und die kleinen Küken
vergaß, die ganz eingeschüchtert weit draußen traurig und
hungrig ihre Kreise zogen.
Sie konzentrierte sich auf das Weibchen der Mandarin-Ente. Sie
mochte es besonders, weil sie sich durchsetzte. Mit weit
aufgerissenem Schnabel jagte sie auch die weitaus größeren und
stärkeren Stockenten in die Flucht.
Merkwürdig war nur, daß die Mandarin-Männchen verschwunden
waren, als die Küken kamen.
Von Zeit zu Zeit mußte er ihr eine neue Scheibe Brot reichen.
Sie klatschte Beifall, als die Mandarin-Ente wieder einmal die
Nebenbuhler verscheuchte, damit sie und ihre Küken mehr von
Sylvia's Brotsegen abbekam.
Rudolf's Hände umfaßten den Kerzenhalter fest, sehr fest. Dann
schlug er zu.
*
"Eigentlich ist das heute doch mein schönster Geburtstag!" dachte Rudolf, als das Wasser des Sees sich wieder schloß. Der Schlamm war noch etwas aufgewühlt, nachdem eine große schwere Masse in ihn hineingeglitten war. Der Schlamm nahm den Körper auf und umhüllte ihn schützend, um ihn nie mehr freizugeben.
Die Nachbarn würden sich mit ihm freuen, wenn sie hörten, daß Sylvia endlich einmal für längere Zeit ihre Verwandten besuchte.
Ein Tag ohne Probleme.
E N TE
D E
(www.zelczak.com/tagohne.htm)